Earlon "Bucky" Bronco hat in den 60er Jahren als Jugendlicher in Chicago eine Soul-Single aufgenommen, die schnell veröffentlicht und im Radio gespielt wurde. Eine zweite Aufnahme gab es im gleichen Studio, allerdings wurde die aus diversen Gründen nicht mehr veröffentlicht, womit die Karriere des jungen Bucky zu Ende war, bevor sie wirklich begonnen hatte. Warum das so war und was genau geschehen ist, erzählt Bucky über ein halbes Jahrhundert später der britischen Soul-Enthusiastin Dinah, die ihn vom Flughafen abholt und zum Weekender-Soulfestival nach Scarborough fährt. Sie und ihre Mitveranstalter haben ihn, sehr zu seinem Erstaunen, als Stargast für dieses Wochenende eingeladen. Ein sehr spätes Comeback für den über 70-Jährigen, der gar nicht so recht weiß, wie ihm geschieht.
Ich gebe es zu, während der Lektüre habe ich einmal gegoogelt, ob es den Song "Until the Wheels Fall Off" von Bucky Bronco tatsächlich gibt. Er ist fiktiv, aber die Geschichte selbst hat ein durchaus reales Vorbild: man schaue sich "Searching for Sugar Man", die Dokumentation über das unwahrscheinliche und späte Comeback des Detroiter Musikers Sixto Rodriguez an.
Ben Myers hat ein großartiges Sommer-Musik-Buch geschrieben. Soulfood in jeder Hinsicht.
Benjamin Myers, Strandgut
DuMont, 978-3-7558-0037-8, 24 €
Aktuell mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2025 ausgezeichnet!
Ein tolles Projekt hat die Comickünstlerin Ulli Lust vor einigen Jahren begonnen. Sie erzählt zeichnerisch die Geschichte der Menschheit, und zwar mit Fokus auf der Geschichte der Frauen. Jetzt ist der erste Band dieser auf zwei Bände angelegten Graphic Novel bei Reprodukt erschienen. "Die Frau als Mensch" ist schon mal ein ebenso ernster wie augenzwinkernd provozierender Titel. Damit ist die Autorin aber auch schon mitten in ihrem Thema. Selbstverständlich ist und war es in der Geschichte der Menschheit durchaus nicht, dass Frauen als ebenbürtige Menschen behandelt wurden. Der mit Abstand größte Teil der anthropologischen Forschung wurde bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein z.B. von Männern verfasst. Und entsprechend einseitig ist dann auch das Frauenbild der gesamten Frühgeschichte.
Ulli Lust schweift von der Frühzeit in die Jetztzeit und zurück und erzählt hier mit ebenso viel Fachwissen wie mit schneidendem Humor.
Ulli Lust, Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte
Reprodukt, 978-3-95640-445-0 , HC 29 €
Philipp, 17-jähriger Gymnasiast, lebt bei seinem alleinerziehenden Vater Lothar. Der ist Chefarzt in der Chirurgie, stemmt die Welt mühelos finanziell, weiß aber nicht, wie und was er mit seinem Sohn reden soll und versucht gleichzeitig Stella, seine junge Lebensgefährtin bei Laune zu halten. All das klappt nur so semi. Philipp redet allgemein nicht viel, und wenn, dann lieber mit seinem Kumpel Lorenz. Ihr Rückzugsgebiet ist der örtliche Friedhof, wo die beiden ungestört Pizza essen und kiffen können. Das und die Schule sind auch irgendwie nur semi. Und dann ist da noch Astrid, Philipps Mutter, die schon lange weg ist, aber per SMS immer wieder durch Philipps Leben geistert, wobei sie jedes Mal mehr Chaos als Trost verbreitet. Alle zusammen kommen sie irgendwie zurecht. Schließlich steht Philipps achtzehnter Geburtstag an und auch das läuft dann irgendwie aus dem Ruder.
Annika Büsing beherrscht virtuos sämtliche sprachlichen Register für Atmosphären und Gefühlslagen. Grandiose Lektüre!
Annika Büsing, Wir kommen zurecht
Steidl, 978-3-96999-468-9, 24 €
Juan Pablo Villalobos, mexikanischer Autor mit Wohnsitz in Barcelona schreibt über einen Tag im Leben von Juan Pablo, eines mit Familie in Barcelona lebenden Schriftstellers aus Mexiko. Es beginnt am Frühstückstisch und endet am gleichen Tag abends am gleichen Tisch mit dem gemeinsamen Abendessen der Familie. Dazwischen erlebt Juan Pablo einen ziemlich kafkaesken Tag mit Besuchen in einer Klinik für Gastroenterologie, zwei Friseursalons, einer Buchhandlung und seinem mexikanischen Lieblingsrestaurant. Dabei redet er u.a. mit der Brasilianerin (seiner Ehefrau), der Bretonin (seiner neuen Friseurin), dem Ecuadorianer (einem eifrigen Schreibschüler) und der Uruguayerin (der Verlobten des Ecuadorianers).
Eine höchst welthaltige Gechichte mit höchst vergnüglichen Dialogen und einem höchst rätselhafen Alibi. Höchst unterhalsam!
Juan Pablo Villalobos, Das Alibi
Deutsch von Carsten Regling
Wagenbach, 978-3-8031-1385-6 , TB 20,00 €
Dass dieser Titel (im Original "The Fisherman´s Gift") ins Mare-Buchprogramm gehört, ist ja klar. Und es ist nicht nur die Verheißung des Titels, die diesen Roman zu einem würdigen Kandidaten im erlesenen Mare-Programm macht. Vielmehr entpuppt sich dieser Debütroman der britischen Autorin Julia R. Kelly als wunderbarer Schmöker und entführt uns in einen kleinen Fischerort an der schottischen Küste im Winter des Jahres 1900. Dort bleiben zu dieser vergangenen Zeit die Bewohner unter sich. Für Reisen sind weder Zeit noch Geld vorhanden und Touristen gibt es auch keine. Einzig die Lehrerin ist vor vielen Jahren aus dem mondänen Edinburgh in den Ort gekommen, wo sie bis auf den heutigen Tag nicht wirklich integriert ist. Dann wird an einem stürmischen Wintertag ein schiffbrüchiger Junge angespült und bringt durch seine bloße Anwesenheit die geregelten Abläufe im Ort durcheinander.
Julia R. Kelly, Das Geschenk des Meeres
Mare, 978-3-86648-748-2, HC 25,00 €
"Surrealismus und deutsche Romantik" lautet Untertitel und Programm der aktuellen Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle (13.6.- 12.10.25).
Vordergründig scheinen hier zwei sehr verschiedene Welten aufeinanderzutreffen, allerdings stellt sich bei Lektüre des großfromatigen und sehr umfangreichen Katalogs heraus, dass die Surrealisten allesamt sehr bewusst auf Gedanken und Programmatik der deutschen Romantik zurückgriffen und aufbauten. Das gilt sowohl für die Schriften als auch für die bildende Kunst der Epoche. Novalis´ Diktum "Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder." wird hier folgerichtig der Aussage von André Breton gegenübergestellt: "Man gebe sich doch nur Mühe, die Poesie zu praktizieren." Bei der Gegenüberstellung vieler Zeichnungen und Gemälde von Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und anderen Romantikern mit denen von Max Ernst, Man Ray oder René Magritte wird die Verwandtschaft sofort deutlich.
Ein 344 Seiten starker, mit vielen Abbildungen und Texten versehener Katalog, der über die Ausstellung hinaus wichtig bleiben wird.
Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik
Hatje Cantz, 978-3-7757-5968-7, 58,00 €
Wir lernen zwei historische Figuren aus dem Paris des 18. Jahrhunderts kennen: Madeleine Basseporte und Marie Biheron. Zwei Künstlerinnen, zwei Liebende im Schatten der Aristokratie und der Revolution. Basseporte bringt es zu höchster Könnerschaft als Pflanzenzeichnerin und Biheron bildet so kunstvoll wie kein anderer die menschlichen Körperteile aus Wachs nach.
"Frauen, vermute ich, werden deshalb in allem so gut, weil man es ihnen so schwer macht.", schreibt Madeleine an den von ihr hochverehrten Naturforscher Linné.
Zwei eindrucksvolle Frauen in Zeiten der Aufklärung und des gewaltsamen gesellschaftlichen Umbruchs. Und vor allem: ein neuer Roman von Christine Wunnicke!
Jetzt auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2025.
Christine Wunnicke, Wachs
Berenberg, 978-3-911327-03-9 , 24 €
Die Geschichte spielt an einem einzigen Tag, dem 3. November 1957, an dem es in Delaware ungewöhnlich warm war. Die Welt hält den Atem an, als die russische Sonde Sputnik 2 mit Hündin Laika an Bord in den Orbit geht. Familie Beckett - Vater, Mutter, zwei kleine Söhne - bricht derweil zum Sonntagsgottesdienst auf. Kathleen verspürt allerdings eine leichte Übelkeit und beschließt zu Hause zu bleiben. Als ihr Gatte samt Söhnen zurückkommt, findet er seine Frau im noch nie genutzten Swimmingpool der Wohnanlage vor. Dort bleibt sie ohne plausible Erklärung insgesamt acht Stunden lang sitzen. Wir erfahren derweil, was in ihrem und was in seinem Kopf vor sich geht. All die kleinen und größeren Versäumnisse und Verfehlungen ihrer jeweiligen Leben und das durchaus wacklige Gerüst, auf dem ihre Ehe gründet werden Stück für Stück offengelegt.
Mit leisen Tönen und auf nur 160 Seiten bringt Jessica Anthony diesen American Family-Dream gehörig ins Wanken.
Jessica Anthony, Es geht mir gut
Übersetzt von Gabriele Werbeck und Andrea Stumpf
Kein & Aber, 978-3-0369-5055-6, TB 23,00 €
Kaum eine Stadt auf diesem Globus hat eine so bewegte, vielfältige, widersprüchliche, gewaltsame und zugleich heilige Geschichte wie Jerusalem, die sich über vier Jahrtausende erstreckt. All dies erzählen Vincent Lemire (Text) und Christophe Gaultier (Zeichnung) in ihrem über 350 Seiten starken Comicalbum.
Die Erzählstimme ist genial gewählt, wir bekommen die gesamte, höchst wechselhafte Geschichte der Stadt von einem wahrlich imposanten und im wahren Sinne objektiven Chronisten dargeboten, einem vor 4000 Jahren gepflanzten Olivenbaum namens Zaytun, der von seinem Standpunkt auf einem Hügel vor der Stadt deren Geschicke über die Jahrhunderte und Jahrtausende beobachtet.
In eindrucksvollen Episoden und Bildern bekommen wir gleichzeitig Stadt- und Menschheitsgeschichte sehr lebendig und anschaulich geboten. Vor allem aber ist diese Geschichte durchweg politisch und weltanschaulich neutral erzählt.
Lemire/Gaultier, Jerusalem
Geschichte einer Stadt
Jacoby & Stuart, 978-3-96428-240-8, 32,00 €